GWP-Kodex
Kodex für die Wissenschaft (Entwurf)
Es handelt sich bei diesem Dokument um einen Diskussionsentwurf eines neuen Kodex für gute wissenschaftliche Praxis und gegen wissenschaftliches Fehlverhalten in Österreich von Doz. Dr. Stefan Weber, Stand 12.06.22. Dieser Entwurf wird im im Netzwerk gegenwärtig debattiert und gegebenenfalls verfeinert werden. Intention des Diskussionsentwurfs ist, die Entwicklung eines international anschlussfähigen Kodex für die Wissenschaft in Österreich zu befördern.
Vorbemerkung
Die Begriffe „gute wissenschaftliche Praxis“ und „wissenschaftliches Fehlverhalten“ wurden 1997 in Deutschland vom Strafrechtswissenschaftler Albin Eser eingeführt, zunächst fast zeitgleich Ende 1997/Anfang 1998 in Entwürfen für die Max-Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), dann auch Mitte 1998 für eine Empfehlung der bundesdeutschen Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Anlass war ein Fälschungsskandal in der Krebsforschung im Jahr 1997. Albin Eser hat bereits Anfang der 1990er Jahre Vorentwürfe zum Umgang mit entsprechenden Verdachtsfällen für die DFG verfasst. Die Österreichische Rektorenkonferenz hat 2002 Richtlinien zur Sicherung einer guten wissenschaftlichen Praxis verabschiedet.
Ein Grundkonsens zum wissenschaftlichen Zitieren ist seit ca. 1960 in den meisten Wissenschaftsdisziplinen nachweisbar. Kontroversen über Plagiate und Fälschungen in der Wissenschaft sind freilich viel älter. Das Zitiergebot und das Plagiatsverbot etwa gab es somit bereits lange, bevor von „guter wissenschaftlicher Praxis“ die Rede war.
§ 1 Adressaten und Vermittlung an diese
(1) Dieser Kodex richtet sich erstens an alle in Lehre und Forschung an österreichischen Hochschulen sowie an außerhochschulischen Lehr- und Forschungsstätten im tertiären Bildungssektor tätigen Personen und zweitens an die Lernenden bzw. Studierenden, sofern sie mit den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis aus diesem Kodex bereits vertraut gemacht wurden.
(2) Lernende bzw. Studierende frühestmöglich mit den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis aus diesem Kodex vertraut zu machen, ist eine der Kernaufgaben aller österreichischen Hochschulen sowie außerhochschulischen Lehr- und Forschungsstätten im tertiären Bildungssektor. Die „Sicherstellung guter wissenschaftlicher Praxis und akademischer Integrität“ hat in Österreich seit 2021 Gesetzesrang in allen vier Hochschulgesetzen. Es ist daher zu Beginn eines jeden Studiums eine zumindest einstündige Pflichtlehrveranstaltung zur Einführung in die – auch fachspezifische – gute wissenschaftliche Praxis anzubieten.
§ 2 Voraussetzungen für wissenschaftliches Arbeiten einschließlich Prüfungsleistungen
(1) Unbefangenheit: Wissenschaftliche Aussagen entstehen stets frei von Einflussnahmen von privaten oder ökonomischen sozialen Netzwerken oder persönlichen Verbindungen und frei von Rücksichtnahmen auf diese.
(2) Ideologiefreiheit: Wissenschaftliche Aussagen sind stets frei von politischen, religiösen oder sonstigen Ideologien zu halten. Wissenschaftliche Aussagen werden nicht auf Basis einer Weltanschauung, sondern nur auf Basis wissenschaftlicher Evidenz getroffen. Ideologische Voraussetzungen führen keinesfalls dazu, dass ideologiefreie Positionen aus der Wissenschaft „gecancelt“ werden. Ideologiefreiheit betrifft also sowohl den Aspekt der Ermöglichung als auch der Verhinderung von Wissenschaft.
(3) Ergebnisoffenheit: Wissenschaft operiert grundsätzlich ergebnisoffen. Soziale Erwünschtheit wird stets vermieden. Ebenso beeinflusst der Auftraggeber von Auftragsforschung die Forschungsresultate und deren Interpretation in keiner Weise.
(4) Kritik: Wissenschaft operiert nie dogmatisch und ist stets offen für Kritik.
(5) Kreativität geht in der Wissenschaft immer vor Reproduktion (mit Ausnahme von Replikationsstudien), wobei die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis aus diesem Kodex die unabdingbare Basis für Kreativität sind.
(6) Qualität geht in der Wissenschaft immer vor Quantität. Die Wissenschaft entwickelt entsprechende Messinstrumente und Kennzahlen für Qualität.
§ 3 Einzuhaltende Dimensionen der guten wissenschaftlichen Praxis
(1) Gute Autorschaftspraxis:
- Ein Autor ist Urheber eines Textes. Alle Personen, die zu einem Werk inhaltlich substanziell beigetragen haben, sind als Autoren anzuführen.
- Umgekehrt ist niemand anzuführen, der nicht als Autor zu einem Werk inhaltlich substanziell beigetragen hat.
- Nicht-menschliche „Autoren“ (etwa Künstliche Intelligenz) sind stets auszuweisen.
(2) Gute Zitierpraxis:
- Jede Formulierung, die aus der wissenschaftlichen Fachliteratur oder aus sonstigen zitierwürdigen Quellen entnommen bzw. bezogen wurde, und jedes Wissen, das nicht auf genuin eigenen Gedanken basiert sowie alles, was nicht Allgemeinwissen ist, muss immer mit genau dieser rezipierten Fachliteratur an Ort und Stelle des Übernommenen belegt werden.
- Es gelten die fachspezifischen Zitierstile und -regeln. Grundlegend ist dabei aber immer die Unterscheidung von eigenem und fremdem geistigem Eigentum sowie die vollständige und nicht bloß teilweise Ausweisung aller übernommenen Formulierungen und Inhalte.
- Wenn es in Österreich in einer Wissenschaftsdisziplin keine facheinheitliche Auffassung gibt, gelten die einheitlichen Regeln von Fachgesellschaften anderer Länder, siehe etwa für die Rechtswissenschaften die bundesdeutschen Regeln in Kap. 1, Punkte 1-15 des Dokuments https://www.vdstrl.de/app/download/8996052397/Leits%C3%A4tze.pdf?t=1624356510.
(3) Gute empirische Praxis:
- Empirische Forschung muss die Gütekriterien von Validität, Reliabilität und Intersubjektivität stets erfüllen: Sie muss also das messen, was sie messen will und sie muss von anderen Forschern replizierbar sein.
- Empirische Daten sind nach dem letzten Stand der Technik (der Software) aufzubereiten, darzustellen und stets korrekt zu interpretieren.
- Empirische Daten sind für einen fachspezifischen Zeitraum aufzubewahren (ein Richtmaß liegt bei zehn Jahren) und die gewählten Methoden sind ebenso zu dokumentieren.
- Idealerweise sind Rohdaten transparent zu veröffentlichen und anderen Forschern zur Verfügung zu stellen (open science).
- Datenschutzrechtliche und ethische Bestimmungen sind stets einzuhalten.
(4) Gute Publikationspraxis:
- Wissenschaftliche Arbeiten (also ab der Master-/Diplom-/Magisterebene) sind grundsätzlich zu veröffentlichen.
- Dabei soll den Veröffentlichungsprinzipien „online first“ und freier, kostenloser Zugang (open access) soweit wie möglich nachgekommen werden.
(5) Gute Bewertungspraxis:
- Die Benutzung von Plagiatssoftware vor der inhaltlichen Beurteilung einer schriftlichen Arbeit einschließlich einer schriftlichen Prüfungsleistung ist verpflichtend.
- Bewertungen von Leistungen der Lernenden bzw. Studierenden, aber auch Evaluationen von Leistungen anderer Forscher (Forschungsprojektanträge, wissenschaftliche Beiträge etc.) und von Lehrenden haben stets unter Rücksichtnahme auf § 2 zu erfolgen.
§ 4 Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis in der Lehre
(1) Zu Beginn eines jeden Studiums ist eine Pflichtlehrveranstaltung zur Einführung in die – auch fachspezifische – gute wissenschaftliche Praxis zu absolvieren, siehe auch § 1 Abs. 2.
(2) Jede schriftliche Arbeit enthält eine eidesstattliche Versicherung, in der Studierende die Einhaltung der wissenschaftlichen Zitierregeln und sonstigen Qualitätsstandards mit DOI-Link auf das entsprechende Dokument und Datum des Aufrufs bestätigen.
(3) Jede schriftliche Arbeit einschließlich jeder schriftlichen Prüfungsleistung ist von der beurteilenden Lehrkraft mit einer leistungsfähigen Plagiatssoftware zu prüfen, siehe auch § 3 Abs. 5 Z 1.
(4) Bei erheblichen Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis ist eine schriftliche Arbeit oder Prüfungsleistung mit „X“ zu bewerten („Schummelvermerk“) und dieses „X“ im Sammelzeugnis zu vermerken.
(5) Zum Zwecke des Monitorings von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis führen Universitäten und Hochschulen entsprechende anonymisierte Statistiken, die sie bei Bedarf der Forschung bereitstellen.
§ 5 Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis in der Forschung
(in Entwicklung)
§ 6 Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis: Wissenschaftliches Fehlverhalten
(1) Verstöße gegen die gute Autorschaftspraxis (Formen unethischer Autorschaft) sind insbesondere:
- die Nicht-Nennung von Autorschaft (gemäß der Definition von § 3 Abs. 1)
- die Nennung einer Autorschaft ohne substanziellen inhaltlichen Beitrag der genannten Person („Ehrenautorschaft“, „Scheinautorschaft“)
- das Engagement eines Ghostwriters inkl. des Engagements von „Schreibagenturen“ für das Verfassen von Forschungsprojektanträgen
- das Ghostwriting für andere
- die verborgene Zusammenarbeit mehrerer an einer Arbeit, insbesondere bei einer schriftlichen Prüfungsleistung, die dann als Einzelleistung ausgegeben wird (collusion)
- das unerlaubte Delegieren von Arbeiten an andere Personen, insbesondere bei einer schriftlichen Prüfungsleistung (assignment outsourcing)
(2) Verstöße gegen die gute Zitierpraxis sind insbesondere:
- die unbefugte Übernahme von Texten, Textteilen, Strukturen und Ideen anderer Personen (Plagiat), dazu gehören auch Verstöße gegen das „Prinzip des Originals“ wie die unbefugte Übernahme von Sekundärzitaten (sogenannte „Blindzitate“), von Sekundärreferenzen (sogenannte „Blindreferenzen“) sowie von bibliografischen Angaben aus einem Literaturverzeichnis (sogenannte „Quellenplagiate“)
- das Nicht-Ausweisen von Übernahmen aus eigenen früheren Werken, wo dies etwa studienrechtlich oder aufgrund von Publikationsrichtlinien geboten wäre
- die Angabe von Quellen, die die zitierten Inhalte gar nicht stützen
- die Erfindung von Quellen
(3) Verstöße gegen die gute empirische Praxis sind insbesondere:
- die Erfindung von Daten (etwa durch das Selbst-Ausfüllen von Fragebögen anstelle anderer Personen)
- die Manipulation und Fälschung von Daten
- die Nicht-Aufbewahrung von Forschungsdaten
- die Nicht-Dokumentation von Forschungsmethoden
(4) Verstöße gegen die gute Publikationspraxis sind insbesondere:
- das nicht fristgerechte Veröffentlichen
- das Nicht-Veröffentlichen von Studienergebnissen aus Gründen bewusster Zurückhaltung
- das Publizieren bei Raubverlagen (predatory publishers)
(5) Verstöße gegen die gute Bewertungspraxis sind insbesondere:
- Gefälligkeitsbeurteilungen und -gutachten
- „Wissenschaftsspionage“ insbesondere bei der Evaluation von Forschungsprojektanträgen, wissenschaftlichen Beiträgen usw., das heißt die gleichzeitige Ablehnung bei unzitierter Übernahme von Ideen oder Texten der Abgelehnten
(6) Weitere Verstöße gegen die gute wissenschaftliche Praxis sind unter anderem:
- die Sabotage
- die bewusste Karrierebehinderung
- die bewusste unbegründete oder bewusste falsch begründete Rufschädigung
- die Bestrafung von Qualität
- die Duldung oder die Nicht-Meldung offensichtlichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens anderer
- das Nicht-Ahnden von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis
§ 7 Fragwürdige Wissenschaftspraxen (QRPs)
(1) Fragwürdige Wissenschaftspraxen, die nicht der guten wissenschaftlichen Praxis entsprechen, aber noch kein wissenschaftliches Fehlverhalten sein müssen, sind insbesondere:
- Citation pushing: Das Zitieren eigener oder fremder Arbeiten primär zum Zweck der Erhöhung des Impact-Faktors.
- Salami publishing: Das teilweise Publizieren von bereits vorliegenden Ergebnissen primär zum Zweck der Erhöhung der Anzahl der Publikationen.
- HARKing (hypothesizing after the results are known): Das Anpassen von Hypothesen an die empirischen Ergebnisse
- p-Hacking: Die Manipulation von Forschungsdaten, sodass etwa p ≤ 0,05 ist, oder die bewusste Auswahl von Forschungsergebnissen, bei denen etwa p ≤ 0,05 ist.
§ 8 Kontrollinstanzen und Verfahren
(1) Jede österreichische Hochschule sowie jede außerhochschulische Lehr- und Forschungsstätte im tertiären Bildungssektor hat pro Fach eine Ombudsperson für gute wissenschaftliche Praxis zu nominieren. Die Kontaktdaten dieser Person sind leicht auffindbar kommuniziert und die Person handelt streng vertraulich. Ein anonymes Online-Whistleblower-System ist einzurichten.
(2) Jede österreichische Hochschule sowie jede außerhochschulische Lehr- und Forschungsstätte im tertiären Bildungssektor hat eine ständige Kommission für gute wissenschaftliche Praxis einzurichten. Die Kontaktdaten dieser Kommission sind leicht auffindbar kommuniziert und die Kommission handelt streng vertraulich.
(3) Bei Nicht-Nominierung von Ombudspersonen oder der Kommission für gute wissenschaftliche Praxis verliert die Hochschule oder die außerhochschulische Lehr- und Forschungsstätte im tertiären Bildungssektor die Möglichkeit, bei nationalen Fördergebern erfolgreich um Drittmittel anzusuchen.
§ 9 Mögliche juristische Folgen wissenschaftlichen Fehlverhaltens
(1) Studienrecht:
- § 19 Abs 2a UG: Sanktionen gegen Plagiat oder andere Formen wissenschaftlichen Fehlverhaltens können in die Satzungen aufgenommen werden. Bei schwerwiegenden Fällen kann das Rektorat einen Studienausschluss von bis zu zwei Semestern verhängen.
- § 73 UG: Nichtigerklärung (oder Ungültigerklärung nach § 20 FHG) einer Beurteilung
- § 89 UG: Widerruf des akademischen Grades
- § 116 Abs 3 UG: Wurde ein akademischer Grad wegen eines Plagiats widerrufen, kann dies der Bezirksverwaltungsbehörde auch als unbefugte Titelführung gemeldet werden, was eine Verwaltungsstrafe in der Höhe von bis zu 15.000,-- Euro nach sich ziehen kann.
- § 116a UG: Der Auftraggeber eines Ghostwriters gilt nach § 12 StGB als „Bestimmungstäter“ und ist somit mit zu bestrafen, wobei eine Verwaltungsstrafe beim Engagieren kommerzieller Ghostwriter von bis zu 60.000,-- Euro möglich ist.
(2) Dienstrecht:
- Dienstpflichtverletzung
- Bei schwerwiegenden Formen schriftliche Abmahnung, Entlassung
(3) Urheberrecht:
- § 81 UrhG (Unterlassungsanspruch)
- § 82 UrhG (Beseitigungsanspruch)
- § 85 UrhG (Urteilsveröffentlichung)
- § 87 UrhG (Schadenersatz)
(4) Strafrecht:
- § 228 StGB (mittelbare unrichtige Beurkundung)
- § 293 StGB (Beweismittelfälschung)
- § 302 StGB (Amtsmissbrauch)
Literaturverzeichnis
AKADEMIEN DER WISSENSCHAFTEN SCHWEIZ (Hg.) (2021): Kodex zur wissenschaftlichen Integrität. https://api.swiss-academies.ch/site/assets/files/25705/kodex_layout_de_web.pdf
DEUTSCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT – DFG (Hg.) (2019): Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Kodex. https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rahmenbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf
ESER, Albin (1999): Die Sicherung von „Good Scientific Practice" und die Sanktionierung von Fehlverhalten. Mit Erläuterungen zur Freiburger „Selbstkontrolle in der Wissenschaft". In: Lippert, Hans-Dieter/Eisenmenger, Wolfgang (Hg.): Forschung am Menschen. Der Schutz des Menschen – Die Freiheit des Forschers. Berlin/Heidelberg: Springer, S. 123-157 (mit Anlage). https://freidok.uni-freiburg.de/dnb/download/3737
HOCHSCHULREKTORENKONFERENZ – HRK (Hg.) (1998): Zum Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten in den Hochschulen. https://www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/zum-umgang-mit-wissenschaftlichem-fehlverhalten-in-den-hochschulen
(Stefan Weber, evolving document, 12.06.22)
— Präambel: Für eine Präambel etwas wenig feierlich und emphatisch. Ich würde eher herausarbeiten, warum GWP wichtig ist und warum es den Kodex aus Ihrer Sicht braucht.
— § 2 Abs 1: Halte ich für problematisch. Zum einen weil diese Forderung an Wissenschaft empirisch nie erfüllt ist und man nur Forderungen stellen sollte, die auch erfüllbar sind. Ein Abstellen auf die „Entstehung“ von Aussagen erscheint mir aber generell unsinnig, denn die Gültigkeit von wissenschaftlichen Sätzen ist unabhängig von der Motivation ihrer Entdeckung beurteilbar. Relevant ist, ob die Aussagen belegt und gerechtfertigt sind, nicht wie der Wissenschaftler sich im Enstehungskontext zu ihnen inspirieren und lenken ließ. Wenn mich meine Familie oder die Regierung dazu veranlasst oder animiert (= Einfluss von sozialer Umgebung und Netzen), ein Mittel gegen Krebs zu finden und ich finde tatsächlich ein Mittel und kann dessen Wirksamkeit einwandfrei begründen, ist daran nichts auszusetzen. Der soziale Einfluss an sich ist insoweit unproblematisch und sollte nicht verdammt werden. Vgl Hans Reichenbachs eingängige Unterscheidung von Entdeckungszusammenhang und Rechtfertigungszusammenahng (Genese und Geltung). Problematisch wäre, wenn der Wissenschaftler seine sozial beeinflussten Aussagen nicht objektiv stützen kann, aber das gilt für alle wissenschaftlichen Aussagen unabhängig von den sozialen Einflüssen, die auf sie kausal einwirkten.
— § 2 Abs 2: Damit bin ich auch nicht einverstanden. Solange der Wissenschaftler seine Aussagen nicht gegen sachliche Kritik immunisiert und sie einer offenen Prüfung zuführt, sind ideologische Vorannahmen meines Erachtens nicht problematisch. Abgesehen davon dass der Ideologiebegriff, nicht zuletzt durch seine marxistische Prägung als notwendig falsches Bewusstsein, notorisch nebulös ist und insofern wenig beitragen kann.
— § 2 Abs 2: Was sind wissenschaftliche Entscheidungen? Ist die Auswahl einer Forschungsfrage schon eine „wissenschaftliche Entscheidung“? Dann sehe ich per se kein Problem, wenn diese von der Weltanschauung motiviert ist. Wenn ein Ökonom zum Beispiel Armut für schrecklich hält und deshalb die Ursachen von Armut erforschen will, wo ist da das Problem? Noch ein Gedanke: Die Entscheidung für ein Signifikanzniveau (Verwerfungsbereich einer Hypothese) in statistischen Tests wird regelmäßig aufgrund von Werturteilen zu treffen sein, weil der trade-off zwischen Fehlern 1. Art und Fehlern 2. Art von weltanschaulichen Vorannahmer über die sozialen Folgen der jeweiligen Fehlerart getrieben ist. Die Entscheidung für ein Signifikanzniveau ist nicht aus der Empirie ableitbar. Insofern kann man diese Entscheidung nicht „NUR auf Basis wissenschaftlicher Evidenz“ treffen.
— § 2 Abs 2: Mit diesem Verweis auf das gerade populäre Gejammere über angebliches Canceln kann ich auch wenig anfangen, weil ziemlich unklar ist, was damit gemeint ist.
— § 2 Abs 3: Ich würde eher sagen: „Soziale Erwünschtheit wird nicht explizit angestrebt.“ Denn warum sollte man sie direkt „vermeiden“? Wenn das Finden eines Zusammenhangs zwischen Ernährung und Krebsrisiko sozial erwünscht ist, warum sollte der Wissenschaftler es dann „vermeiden“ einen solchen Zusammenhang zu finden? Dann müsste er ja explizit nach sozial Unerwünschtem streben.
— § 2 Abs 5: Das ist mir zu stark und pauschal formuliert. Die Reproduktion und marginale (also unkreative) Abwandlung von Experimentalsettings ist ein ganz wichtiger Bestandteil von Wissenschaft und sollte nicht abgewertet werden. Man kann nicht einerseits Reproduzierbarkeit fordern und dann über die (etwa experimentelle) Reproduktion die Nase rümpfen.
— § 3 Abs 2 Z 1: Würde stattdessen auf „facheinschlägiges Allgemeinwissen“ abstellen, sonst wäre die Zitiererfordernis überschießend.
— § 3 Abs 3 Z 1: Sozialwissenschaft misst fast nie das, was sie messen will. Das ist kein Ausweis schlechter Wissenschaft, sondern Ausfluss der Tatsache, dass die betreffenden Entitäten (etwa Wohlbefinden; Präferenzen; Intelligenz) dieses Gegenstandsbereich messtheoretisch schwierig zu operationalisieren sind. Insofern ist die genannte Forderung unfair. Wissenschaft sollte halt transparent ausweisen, wenn das zu Messende und das Gemessene auseinander klaffen und konkret dazusagen, warum dem leider so ist.
— § 4 Abs 2 Z 1: Ich denke, diese Begriffe müsste man genauer erklären, damit auch Nicht-Experten verstehen, was gemeint ist.
— § 4 Abs 4 Z 1: Das verstehe ich nicht. Von welchen Fristen reden wir?
— § 4 Abs 4 Z 2: Wenn ein Wissenschaftler Studienergebnisse bewusst nicht veröffentlicht, weil sie ihm Spanisch vorkommen, dann kann das auch aus Sorgfaltsgründen geboten sein, um das Studiensetting nochmal auf Fehler abzuklopfen oder bei Kollegen informell ein Feedback einzuholen.
— § 4 Abs 6 Z 2: Wenn ich weiß, dass jemand schlecht ist und ich behindere daher dessen Karriere, z.B. durch negative Informationen an Kollegen. Warum ist das ein Verstoß?
In Zusammenhang mit dem Urheberrecht wäre es eventuell auch zielführend, auf die Themen „Bearbeitung“, „freie Nutzungen“ sowie auf das Thema „Privatanklage-Delikt“ zu verweisen.